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Ich wollte Fische retten

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Ich schlug die Tür des alten dreigeschossigen Gebäudes zu, wo man meine Mitschüler und mich darin unterrichtete, zu einer grauen, leblosen Masse zu verschmelzen. Vor mir öffnete sich das Halbdunkel des Schulhofs. Es war still, meine Klassenkameraden befanden sich längst zuhause. Ich lief am windschiefen Zaun entlang, hinter dem sich in der Dämmerung die klare Silhouette des Rohbaus eines Handelszentrums abzeichnete, das niemals fertiggestellt werden würde. Vorsichtig ging ich um die offenen Kanalisationsschächte herum, deren Abdeckungen seit langem gestohlen und zu Altmetall verwertet worden waren und lief über den löchrigen Asphalt. In der Ferne hob sich schon der graue Block des neunstöckigen Gebäudes ab, in dem ich seit meiner Geburt lebte, die weder erwünscht noch geplant worden war.


Meine Beine fühlten sich wie Watte an, als ich aus dem versifften Lift zur Tür der Wohnung Sechsundsechzig ging. Mit tauben Fingern klaubte ich die Schlüssel aus der Seitentasche des abgeschabten Rucksacks. Heute abend war ich später dran als gewöhnlich. Nachdem meine Mitschüler, die mich seit langem anekelten, den Unterricht verlassen hatten, hatte ich noch mit einem anderen Mädchen Klassendienst gehabt und die Fußböden fegen und wischen müssen. Ich hatte nichts gegen diese kleingewachsene Mitschülerin; sie war erst seit kurzem in der Klasse und zwar übermäßig angepasst, aber nicht bösartig. Sie kam vom Land und war mit ihrer Tante in unsere gesichtslose Stadt gezogen. Bis zur Dunkelheit hatten wir beide auf den mit Schimpfwörtern beschmierten Schulbänken gesessen und Belanglosigkeiten ausgetauscht. Keine von uns zog es nachhause, weil uns in unseren engen und ungemütlichen Wohnungen niemand erwartete. Wir hatten keine Sehnsucht nach dem sargähnlichen Hochhaus und seinen kalten Wänden, wo man bei ausgeschalteter Heizung zum Abendessen ungesalzene Gerstengrütze runterwürgen musste.


Ich betrat die Wohnung. Meine Mutter war glücklicherweise noch nicht zu Hause, wie schon die Tage zuvor, als sie nicht vor Mitternacht heimgekommen war. Sie hatte sich einen neuen Ficker zugelegt, einen fetten Glatzkopf mit einer schnarrenden Aussprache. Offenbar war er wohlhabend, denn er hatte sie schon mehrmals in eine Bar ausgeführt, in der keine Proleten verkehrten. Mit seiner Kohle hätte er sicher auch ein besseres Weibsstück finden können. Was konnte ihm diese hysterische, im Eiltempo alternde Schlampe schon geben, die meinen Vater bei lebendigem Leib hatte verfaulen lassen und zudem vor zwei Monaten wegen ihrer Trunksucht die Arbeit verloren hatte? Auch heute Abend hatte sie zum Saufen mal wieder das Weite gesucht. Anscheinend befriedigte sie ihr Stecher bislang auch mit Alkohol.


Ich hatte total Kohldampf, aber außer angestaubten Zwiebäcken in einem geflickten Säckchen und Perlgraupen im Küchenschrank war nichts vorhanden. Der alte Kühlschrank war abgeschaltet. Ich konnte meine blöde Neigung zu Selbstgesprächen mal wieder nicht unterdrücken und verfluchte die ganze Küche. In ohnmächtiger Verzweiflung starrte ich ins Dunkel des Küchenfensters. Über die schmutzige Scheibe trommelten Hagelkörner.


Ein unerklärliches Geräusch hinter meinem Rücken ließ mich plötzlich zusammenschrecken. Abrupt drehte ich mich um. Auf dem Fussboden unter dem Spüle stand eine Tüte, die mit etwas Undefinierbarem gefüllt war. Die Neugier trieb mich dazu, sie zu öffnen.


Meine ermüdeteten Augen weiteten sich vor Erstaunen. In der Tüte lagen lebendige Fische, die einander verzweifelt erdrückten. Schwer atmend, die Kiemen aus Leibeskräften wie zerbrochene Fächer spreizend, glitten sie mit ihren silbernen Schuppen übereinander hinweg und bemühten sich, so hoch wie möglich zu springen, um sich aus der Trockenheit ihres Plastikkerkers zu befreien. Ich beugte mich zu ihnen herunter und schaute in ihre dem Untergang geweihten Fischaugen, in ihre vom Todeskampf gezeichneten, immer noch zuckenden Mäuler.


Sie wollten leben


Plötzlich schoss ein großer Fisch unter Aufbietung seiner letzten Kräfte zehn Zentimeter in die Höhe und ließ mich zusammenzucken.


Ich hasse… hasse alle Menschen!

Sollen sie doch verrecken, unter den schrecklichsten Qualen!

Ich hatte kein Mitleid mit ihnen, nicht das geringste!

Ich will… ich will die Fische retten…


Ohne noch weiter zu überlegen, trug ich die Tüte eilig ins Badezimmer und drehte den festverschraubten Kaltwasserhahn voll auf. Mit einem schwarzen Pfropfen verstopfte ich den Abfluss und nahm die Fische aus der Tüte. Einige Minuten beobachtete ich wie benommen das Wechselspiel der Farben auf den Schuppen im Wasser, das die Wanne allmählich füllte. Die Fische spürten sofort die nahende Rettung. Der starke Wasserstrahl verlieh ihnen mit jeder Sekunde neue Kräfte. Schon bald würden sie sich in der vollgefüllten Badewanne eingerichtet haben und sich mit ihren Flossen sicher unter Wasser bewegen, als würde ihr Leben nun nichts mehr bedrohen.


Das beharrliche Klingeln an der Tür brachte mich wieder in die Realität zurück. Ich rannte los, um die Eingangstür zu öffnen. Auf der Schwelle stand meine besoffene Mutter, ihr Gesicht war verzerrt und mit einem nuttig grellen Lippenstift verschmiert. Ich unterdrückte zunächst meinen Zorn und lief ohne ein weiteres Wort ins Wohnzimmer. Meine Mutter ließ ich allein im Flur zurück, wo sie mit großer Mühe ihre dreckigen Stiefel abstreifte. Seitdem mein Vater sich erhängt hatte, gehörte das fast täglich zu ihrer Routine.


«Olka, wieso rauscht im Badezimmer so das Wasser?»


Zorn und unverhohlene Verachtung schwappten in mir hoch.


«Wo hast du die Fische her? Wieso hast du sie in die Tüte geworfen, sollen sie da verrecken?» Ich war nicht imstande, mich länger zurückzuhalten und antwortete auf ihre Frage grob mit einer Gegenfrage.


Wutentbrannt, das linke Bein noch immer im Stiefel, wankte meine Mutter auf mich zu.


«Sag bloß… Sag bloß, verdammte Idiotin, hast du etwa die Wanne volllaufen lassen, für die Fische?» schrie sie. «Ich…»

«Hast du sie noch alle? Warum hast du sie zum Krepieren da abgestellt? Sie haben Schmerzen! Sie leiden! Sie wollen leben! Wenn du sie töten willst, dann mach’s gefälligst gleich…»


Meine Mutter hielt inne und kniff die aufgequollenen Augen zusammen.


«Verdammtes Luder!», zischte sie, «da bringt man dir was zu fressen mit, du undankbares Miststück! Und was ist der Dank dafür?! Ich bin also eine Tierquälerin, ja?» Heftig schlug sie mich mit der Hand ins Gesicht. Wieder spürte ich, wie meine Wangen heiß wurden.

«Ich quäle sie, ja?! Und du bist eine Heilige! Eine ganz Schlaue?», schrie sie, während sie mir weiter ins Gesicht hämmerte.


Hilflos schlug ich die Hände vor dem Gesicht zusammen. Tränen liefen an meinen blassen Handballen hinunter, obwohl ich mir vorgenommen hatte, niemals mehr zu weinen.


Unvermittelt hörten die Schläge auf. Meine betrunkene Mutter, einen Fuß immer noch im Stiefel, begab sich ins Bad. Lauthals schluchzend verharrte ich auf der Stelle, während ich mich fragte, was diese besoffene Schlampe wohl als Nächstes anstellen werde.


Schon bald kam sie wieder aus dem Badezimmer. In der Hand hielt sie die Tüte mit den zappelnden Fischen, welche erneut das lebenswichtige Nass eingebüßt hatten.


«Na los, Miststück, schaff sie in den Müll!», brüllte sie abermals hysterisch. «Dann gibt’s heute eben nichts zu fressen.»


Ich gehorchte wie eine willenlose minderjährige Sklavin und presste die Tüte mit den Fischen in meiner Hand zusammen.


Draußen war es dunkel, keine Laterne erhellte den Hof. Es war menschenleer, der plötzliche Hagelschauer hatte alle Menschen, die vor dem Haus herumgelungert hatten, vertrieben. Die verrosteten Abfalltonnen standen hundert Metern vom Eingang entfernt. Neben ihnen verbrannten zwei Obdachlose Müll, um sich daran zu wärmen. Ich trat zu ihnen.


«Hier, da habt ihr Fische. Ihr könnt sie alle essen, sie… sind frisch», sagte ich mit einer seltsam dünnen Stimme, ohne jedes weitere Grußwort. Ich hörte auf zu weinen und streckte einem Obdachlosen die Tüte entgegen.


Ein anderer Obdachloser mit einem nassen Holzstück in der Hand stand zunächst unschlüssig da und rührte sich nicht. Möglicherweise verwirrte ihn mein gerötetes, verweintes Gesicht. Aber dann trat er näher und nahm mir die Tüte ab. Mit unsicherem Schritt ging er damit auf seinen Kumpel zu, der mich die ganze Zeit anstarrte.


«Danke, Kleine», sagte er schliesslich.


Ohne eine Antwort ging ich wieder zum Eingang. Ich hatte mich fast schon wieder beruhigt. Die Dunkelheit flösste mir keine Angst mehr ein. Zudem lag in der Tasche meiner verschlissenen Jeans das Taschenmesser meines Vaters, mein letztes Erinnerungsstück an ihn. Ich trug es seit dem letzten Sommer immer bei mir, nachdem mich ein paar Assis aus dem Industrieviertel angegriffen hatten.


Plötzlich tauchte die Silhouette eines Mannes vor mir auf und versperrte mir den Weg. Ich hob den Blick und sah einen ungefähr zwanzigjährigen kahlköpfigen Typ vor mir. Nicht weit entfernt von ihm stand Kosoj aus der Zehnten und grinste schadenfroh.


«Na, wohin geht’s?» Der rasierte Typ feixte.

«Aha, eine ganz Coole.» Geschickt unterband er meinen Versuch, durch den Eingang hindurchzuschlüpfen und die Stufen zum sechsten Stockwerk hochzulaufen.


Sein Selbstbewusstsein und der manische Blick nervten mich. Er war offenbar betrunken oder unter Drogen, und jede Emotion lockte das Tier in ihm heraus. Er fing an, mich durch die Jacke hindurch zu begrapschen, während er mit der anderen Hand versuchte, sie aufzuknöpfen.


Am liebsten hätte ich wieder losgeheult. Stattdessen nahm ich all meinen Mut zusammen und brüllte ihn an:


«Niemals»…


Mit seiner riesigen rauhen Pranke packte er mich heftig am Hals, als würde er eine Schlinge um mich werfen und sie festziehen. Hilflos wehrte ich mich, während ich langsam die Kontrolle über mich verlor. Das Adrenalin beschleunigte meinen Blutdruck. Ich witterte die ernste Gefahr und unterwarf mich meinen unterbewussten, animalischen Reflexen.


«Mit mir nicht», beendete ich laut meinen logisch unzusammenhängenden Gedanken.


Der Würgegriff um meinen Hals erschlaffte. Zuerst wich er nur etwas zurück, dann sank er langsam in sich zusammen, während er röchelnd versuchte, den Blutstrom aus seiner Kehle zu stoppen. Erschrocken sah er mich an, mit den Augen des tödlich getroffenen Opfers. Seine riesigen, blutbefleckten Hände zitterten. Die Arroganz und das Hochgefühl des Rausches waren im Nu verflogen. So leicht ließen sich also all meine lebenswichtigen Probleme lösen.


So schnell er nur konnte, rannte Kosoj in Richtung der Garagen. Ich begab mich zum Eingang, in der Hand das offene Messer. Einige Sekunden später war ich schon im Haus. Mein Herz riss sich aus meiner Brust los. Ich schnappte nach Luft, aus Angst oder wegen des Gestanks am Eingang. In Windeseile stürmte ich die sechs Stockwerke zu Fuß hoch, öffnete die Wohnungstür und lief in den Flur hinein.


«Wo hast du dich so lang rumgetrieben?» Meine Mutter, immer noch betrunken, ein Bein weiterhin im Stiefel, starrte mich wie ein Hammel an. «An deiner Jacke klebt Blut! Du…»


Ich war es leid, die Vorschriften und Tadel dieser willenlosen, amorphen Körper ertragen zu müssen; ich war es leid, mich ständig gedemütigt zu fühlen und den Komplexen und Wahnvorstellungen Anderer ausgesetzt zu sein. Widerstandslos ergab ich mich abermals den Reflexen meines eigenen Unterbewusstseins und ließ mich treiben.


Meine Mutter röchelte viel leiser als der kahle Typ am Eingang. Im Licht der Flurlampe sah ihr Blut hell aus. Der Blutgeruch vermischte sich mit ihrer Alkoholfahne und mir wurde speiübel. Sie krümmte sich zusammen, presste die Hände an den Hals und fiel zu Boden. Es machte mir nichts mehr aus.


Ich hatte keine Lust mehr, zu weinen. Stattdessen betrachtete ich die Schneide des väterlichen Messers, an der das noch warme Blut klebte. Mein Herz klopfte heftig, wie das beschleunigte Glockenspiel einer Turmuhr. Jetzt spürte ich nur noch mein eigenes Blut, dass in den Kapillaren pulsierte und mich anflehte, es rasch herauszulassen.


Fragen, Wünsche, Anregungen an:

konstantin.bogatski@googlemail.com

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